Lernen als Parcours der Entdeckung

Das besondere Profil der Freinet-Pädagogik läßt sich deshalb auch am ehesten an solchen konkreten Unterrichtsprojekten nachzeichnen. Eine besondere Rolle spielt dabei z.B. die Aufteilung des Klassenzimmers in unterschiedliche »Ateliers« - also in Arbeits-, Lern- und Experimentierstationen. Hier kann der Unterricht zu einem Parcours des entdeckenden Lernens werden, in dem sich die Kinder von ihrer naturwüchsigen Freude am Forschen und Experimentieren leiten lassen. In einer »Arbeitsbücherei« können solche Erfahrungen systematisiert werden: Hier können sich die Kinder eine Nachschlagekartei oder ein Lernprogramm ausleihen, hier können sie in Versuchsbeschreibungen oder in Exkursions-Alben blättern.

In einem Arbeitsplan wird für alle Kinder ein verbindliches Wochenpensum festgelegt und auf einer Wandzeitung das Klassenleben in Wort und Bild dokumentiert. Schließlich ist auch das Zusammenleben in der Klasse demokratisch organisiert: Ein regelmäßig tagender Klassenrat läßt die Kinder Probleme gemeinsam lösen und ihre Aktivitäten gemeinsam planen. Was in den 20er Jahren in einem französischen Bauerndorf begann, ist längst zu einer einflußreichen Bewegung geworden. Allein in Frankreich bekennen sich heute über 30.000 Lehrkräfte zu einer Pädagogik im Sinne Freinets. Und auch in der Bundesrepublik verfügt die Freinet-Pädagogik seit 1976 über ein festes Netzwerk: die »Pädagogik-Kooperative e.V.« Am Anfang der Bewegung standen weniger hehre Ziele als vielmehr ganz pragmatische Interessen: Lehrkräfte, die im Unterricht mit der Schuldruckerei beginnen wollten, schlossen sich zusammen, um die Herstellung und den Vertrieb von Handdruckpressen genossenschaftlich zu organisieren. 1948 konstuierte sich deshalb die CEL, ein Materialvertrieb für Lehrkräfte, die im Sinne Freinets arbeiten. Sie kooperiert heute eng mit der FINEM, dem weltweiten Zusammenschluß der Freinet-PädagogInnen. Solche Zusammenschlüsse helfen innovativen Lehrkräften, ihre unfreiwillige Isolation aufzubrechen und ihre Erfahrungen mit anderen auszutauschen. Das ist ganz im Sinne Freinets, der der pädagogischen Avantgarde in den Schulhäusern empfahl, sich als Kooperative zu organisieren. Die Kooperative ist für ihn dabei freilich kein Zwangskollektiv, sondern ein freiwilliger Zusammenschluß von Gleichgesinnten.

Veränderung ist möglich

Für Freinet kann jede und jeder mit einer Veränderung des Unterrichts beginnen - unabhängig davon, an welcher Schulart frau/man arbeitet, welches Fach frau/man unterrichtet und welches pädagogische Temperament ihr/ihm eigen ist. Und diese Veränderung ist nicht von bestimmten Rahmenbedingungen abhängig. Auch eine rückwärtsgewandte Bildungspolitik taugt deshalb nicht als Ausrede. Und auch die bayerischen Verhältnisse rechtfertigen keine Pädagogik wider besseres Wissen. Das kann der Grund dafür sein, daß die Freinet-Pädagogik auch in Bayern über einen treuen Anhang verfügt. Dreimal im Jahr macht sich dieser Anhang zum bayernweiten Treffen der Freinet-PädagogInnen auf, das sich längst den Ruf eines reformpädagogischen Woodstock erworben hat. Im Mittelpunkt solcher Treffen stehen jeweils Workshops, in denen einzelne KollegInnen Beispiele aus der Schulpraxis vorstellen - von der Arbeit eines Klassenrats bis zum Projekt »Lesen durch Schreiben«. Wie der Unterricht auch, soll dieses Treffen der Lehrkräfte praktisch, sinnlich und lustvoll sein. Und die Zahl von über 100 Anmeldungen beweist, daß dieser Anspruch offensichtlich auch eingelöst wird. Darüber hinaus ist die Organisation der Freinet-Pädagogik in Bayern eher niederschwellig ausgerichtet: Da gibt es keine Geschäftsführerin, ja nicht einmal ein Büro. Die anfallende Arbeit wird hier ehrenamtlich geleistet. Wer deshalb nicht nach einem Religionsersatz sucht, sondern nach einer bunten Szene von Gleichgesinnten, wer sich nicht in Vereinsmeierei üben möchte, sondern im Austausch innovativer Ideen und Projekte - der/die sollte sich diese Kontaktadresse notieren:

Petra und Ulrich Vogt,
Haus-Nr. 4,
96138 Unterneuses

Von Jonas Lanig (DDS 3-4/1999) mit freundlicher Genehmigung der GEW Bayern.



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