Nachwort

Paulo Freire hat durch sein Wirken in ganz unterschiedlicher Weise Spuren hinterlassen. Auf den ersten Blick - auch wenn man Nachrufe zu seinem Tod liest - entsteht der Eindruck, sein pädagogisches Erbe sei beschränkt auf die von ihm entwickelte Alphabetisierungsmethode, mit der erwachsene Analphabeten in 40 Stunden lesen und schreiben lernen können. Tatsächlich aber bleibt sehr viel mehr vom Werk Paulo Freires. Die Einflüsse seiner als politisch-emanzipatorisch verstandenen Pädagogik, die situationsbezogen und dialogisch ausgerichtet ist, reichen vom Kindergarten über die Jugendarbeit bis zur Sozialarbeit und Erwachsenenbildung.

Die Berücksichtigung des sozialen und gesellschaftlichen Kontextes als zentrales Element seiner Konzeption hat aber nicht nur die Pädagogik beeinflusst; sie steht auch in einem Zusammenhang mit der im Wesentlichen aus Lateinamerika stammenden "Theologie der Befreiung". Bildungsarbeit und Erziehung sollen nach dem Verständnis von Freire unmittelbar zu einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung beitragen. Im Sinne liberaler Aufklärung geht es dabei in erster Linie um eine Emanzipation derer, die gesellschaftlich marginalisiert sind. Oder wie es der Generaldirektor der UNESCO, Federico Mayor, in einem Nachruf auf Freire noch allgemeiner formulierte: "A pioneer in the fight against illiteracy, Paulo Freire demonstrated - more than anyone - that education was the foundation of all freedoms; that it alone can give people mastery over their destiny."

Die weltweite Ausstrahlung der Konzeptionen von Paulo Freire ist außergewöhnlich. Nur wenigen Wissenschaftlern aus Lateinamerika ist außerhalb des Subkontinents solche Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. Dies gilt für den akademischen wie für den (bildungs-)praktischen Bereich. Deutschland kann hier als Beispiel genannt werden. Zwar lässt sich der frühe Erfolg der Schriften von Paulo Freire in Deutschland wohl auch damit erklären, dass diese den Nerv einer Zeit trafen, in der in Teilen der Bevölkerung eine gewisse Revolutionsromantik angesagt war; Aber Freires Konzeption hat die Strömungen des Zeitgeistes überdauert.

Sein Einfluss auf die "Kritische Pädagogik" ist ungebrochen. Es sind unzählige Dissertationen, Diplom- und Magisterarbeiten, Bücher und Zeitschriftenaufsätze über Freire verfasst worden. Die Veranstaltung von Seminaren und Vorträgen, die Pflege internationaler Kooperationsvorhaben, entwicklungsbezogene Bildungsarbeit etc. haben sich die "Paulo-Freire-Gesellschaft" (München) und die "Paulo Freire Kooperation" (Oldenburg) zur Aufgabe gemacht. Der Auseinandersetzung mit Freires Pädagogik dienen die Zeitschriften "Dialogische Erziehung" und "Zeitschrift für befreiende Pädagogik". In Brasilien selbst wurde 1992 das Instituto Paulo Freire gegründet, in dem sich Personen und Institutionen aus 24 Ländern zusammengeschlossen haben.

Wenngleich Freire sein Konzept nicht überall erfolgreich umsetzen konnte, hat er sich doch Verdienste durch seine praktische Bildungsarbeit vor allem in Brasilien, in den Jahren seines chilenischen Exils bei der Organisation von Alphabetisierungsprogrammen im landwirtschaftlichen Bereich und beim Aufbau des Bildungswesens in verschiedenen afrikanischen Ländern erworben. Projekte in vielen Ländern aus dem Bereich der Bildungsarbeit mit Frauen, der Friedenserziehung, der Ökologie- und Gesundheitsbewegung orientieren sich auch heute noch an dem von Freire entwickelten pädagogischen Ansatz.

Freires Methode der Alphabetisierung wurde allerdings auch für Zwecke missbraucht, die seiner Konzeption diametral gegenüberstehen. Bestes Beispiel ist das 1967 von den damaligen brasilianischen Machthabern ins Leben gerufene Alphabetisierungsprogramm MOBRAL (Movimiento Brasileiro de Alfabetização) . In einer kompletten Pervertierung der Freire'schen Konzeption machten diese sich den Erfolg der Methode für eigene Zwecke der nationalistischen Indoktrination nutzbar. An die Stelle der zentralen, kritisch-reflexiven Komponente der conscientização trat genau das, was bei Freire als Bankiers-Konzept der Erziehung bezeichnet wird. Seines dialogischen Charakters beraubt diente MOBRAL über das Sich-Aneignen vorgegebener Lerninhalte der Verstärkung von Mythen, die für die Anpassung an die gegebenen Herrschaftsverhältnisse sorgen sollten.

Diese Instrumentalisierung seiner Methode kann Freire sicher nicht zum Vorwurf gemacht werden. Angreifbar ist sein Werk hingegen, wenn man wissenschaftliche Kriterien anlegt. Problematisch bleibt z. B. - trotz aller Relativierungen und Abwägungen seiner Anhänger -, dass er zentrale Begriffe nicht klar definiert. Begriffe wie "Freiheit" und "Volk" bleiben unscharf. Und für den von ihm in seinem ersten Buch verwendeten Hauptbegriff conscientização findet sich in "Erziehung als Praxis der Freiheit" überhaupt keine Definition. Dies holt er erst in der Einleitung zur "Pädagogik der Unterdrückten" nach.

Auch sein Entwicklungsbegriff ist nicht eindeutig und nur schwer zu operationalisieren. Entwicklungstheoretisch steht Freire zunächst in einer Tradition derjenigen dependenztheoretischen Strömung, für die Entwicklung in Abhängigkeit von Zentrumsnationen nicht möglich, weil ein Widerspruch per se ist. Darüber hinaus wendet er sich gegen einen rein wachstumsfixierten Entwicklungsbegriff. Er differenziert zwischen Modernisierung und Entwicklung und weist darauf hin, dass Indikatoren wie Pro-Kopf-Einkommen keinen Aufschluss über den Entwicklungsstand einer Gesellschaft geben. So weit, so gut. Wenn er aber erklärt, "das grundlegende und entscheidende Kriterium [für Entwicklung] besteht darin, ob die Gesellschaft ein 'Wesen für sich selbst' ist" (PdU, S. 138), dann bleibt dies doch sehr vage. Durch mangelnde sprachliche Präzision und allzu mystisch angehauchte Wendungen in seinen Schriften waren Verwirrungen und Fehlinterpretationen immer wieder Tür und Tor geöffnet.

Von Kritikern wird ihm u. a. auch vorgeworfen, allzu idealistische Positionen vertreten sowie Alltagssituationen überinterpretiert zu haben. Seine Analyse der politisch-sozialen Wirklichkeit sei moralisch überfrachtet und stark von einem Schwarzweißdenken geprägt, das relativierende und differenzierende Grautöne vermissen lasse. Diese Kritik hat allerdings die internationale Ausstrahlung von Freire kaum beeinträchtigt.

Die "entwicklungspraktischen" Verdienste Freires hat Joachim Dabisch in einem Vortrag zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Oldenburg am 7. 7. 1997 zusammengefasst: "Als Pädagoge der Unterdrückten, als Pilgervater des Offensichtlichen - wie er sich auch nannte - vermittelte er unzähligen Menschen einen Zugang zur Welt des Verstehens, indem sie begannen, unwürdige Lebensumstände zu verändern. Sie lernten dies in kleinen, oftmals selbstorganisierten Gruppen. Sie lernten, ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren, sie in Begriffe zu fassen."

Das revolutionäre Potenzial seiner Zielgruppen und ihren Willen zu einem wirklichen Klassenkampf hat Freire wohl doch überschätzt. Vielleicht machte er deshalb in seinem 1994 erschienenen Buch "Pedagogy of Hope" das "Prinzip Hoffnung" zum Leitgedanken der eigenen Auseinandersetzung mit seiner "Pädagogik der Unterdrückten".

von
Christoph Wagner



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