Volkspädagoge der Gegenwart

Kaum ein anderer Pädagoge fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit so viel Aufmerksamkeit wie der Brasilianer Paulo Freire. Die, von ihm entwickelten Alphabetisierungsmethoden wurden in unzähligen Projekten umgesetzt und auf unterschiedliche Bereiche der Pädagogik übertragen. Freire selbst ging es aber um mehr als um Alphabetisierung. Im Mittelpunkt seines pädagogischen Konzepts steht die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins bei den Machtlosen und Unterdrückten. In einer Einheit von Reflexion und Aktion sollen diese die Machtverhältnisse und das eigene Handlungspotenzial erkennen mit dem Ziel, die Welt zu verändern.

Paulo Freire wird häufig als "wichtigster Volkspädagoge der Gegenwart", "einer der bedeutendsten Wegbereiter einer Pädagogik für das 21. Jahrhundert" und "the best known educator of our time" bezeichnet. Weltweit bekannt geworden ist er durch seine Erwachsenenbildungsarbeit in Lateinamerika und Afrika. Unter entwicklungstheoretischen und entwicklungspraktischen Gesichtspunkten ist seine Pädagogik insofern von Relevanz, als er sie im unmittelbaren Kontext mit dem Kampf gegen Unterdrückung und Elend, für Befreiung, Gerechtigkeit und Demokratie sieht. Als er seinen Beraterposten beim Weltkirchenrat antreten sollte, formulierte er dies unmissverständlich: "Meine Sache ist die Sache der Armen dieser Erde. Sie sollten wissen, dass ich mich für die Revolution entschieden habe."

Im Unterschied zu vielen anderen entwicklungstheoretischen Ansätzen hat Freire bei seiner Konzeption das Individuum im Blick, genauer: das unterdrückte Individuum. Ihm geht es darum, die subjektiven Voraussetzungen für dessen Befreiung zu schaffen. Durch Erziehung zur Selbstbefreiung sollen sie bewusst planende und handelnde Akteure ihrer eigenen Lebenspraxis werden.

Freires Ziel besteht darin - ähnlich wie bei Ivan Illich, mit dem er Mitte der 70er Jahre das Werk "Diálogo" publizierte -, durch Bildung eine gewaltlose Revolution zu erreichen. Sein Grundgedanke ist, dass nur wer die Welt benennen kann, d. h. nur wer die Sprache in Wort und Schrift beherrscht, in der Lage ist, die Welt zu verändern.

Erziehung kann nach Freire niemals neutral sein. Unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung hat Erziehung immer auch eine politische Dimension. Freire unterscheidet grundsätzlich zwei Erziehungspraktiken: Erziehung als Instrument der Domestizierung des Menschen und als Instrument zur Befreiung des Menschen. Die Erziehung zur Domestizierung funktioniert als Akt bloßer Wissensübermittlung: Die Schüler werden als bloße Behälter betrachtet, die vom Lehrer gefüllt werden müssen. Nach dem - wie Freire es in seinem Buch "Pädagogik der Unterdrückten" nennt - "Bankiers-Konzept" tritt der Lehrer als Anleger, der Schüler als Anlage-Objekt auf. Der Lehrer übermittelt Wissen als "Spareinlagen", die der Schüler lediglich entgegenzunehmen und abrufbereit zu deponieren hat.

Ziel dieser anti-dialogischen Erziehung ist es, den Menschen an die gegebenen Verhältnisse anzupassen, sein eigenes Denken auszuschalten, Kreativität und Kritikfähigkeit abzutöten, um letztlich den Fortbestand der unterdrückerischen Gesellschaftsordnung und die Vormachtstellung der herrschenden Eliten zu sichern. Insofern gehören zu den Spareinlagen auch Mythen, die zuallererst der Aufrechterhaltung des Status quo dienen. Dazu zählt z. B. der Mythos, dass

Diese Mythen seien, so Freire, zentraler Bestandteil einer den Unterdrückten oktroyierten "Kultur des Schweigens". Da die Eliten über die Definitionsmacht des Wortes verfügen, sind die Massen unfähig, sich in einer ihrer unmittelbaren Realität entsprechenden Weise zu artikulieren. Und Sprachlosigkeit führt zu Apathie. Um die so zementierten Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen, bedarf es nach Freire einer Entmythologisierung. Dazu in der Lage sind nur diejenigen, die lesend, schreibend und sprechend über ihr eigenes Wort verfügen.

Dem Bankiers-Konzept stellt Freire die "problemformulierende Bildung" entgegen, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem "Warum" steht. Dabei sollen die Menschen "die Kraft [entwickeln], kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt existieren [...]. Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit im Prozess sehen, in der Umwandlung" (Pädagogik der Unterdrückten, S. 67). Der Schlüsselbegriff in Freires Konzeption ist conscientização (etwa: Bewusstwerdung). Das ist der Lernvorgang, "der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen" (PdU, S. 25).

Für Freire ist Alphabetisierung in ihrer Qualität als Entwicklung eines kritischen Bewusstseins ein revolutionärer Akt. Erst der Bewusstwerdungsprozess versetzt den Menschen in die Lage, als Subjekt zu agieren. Beide Dimensionen, Reflexion und Aktion, gehören bei der Erziehung als Instrument zur Befreiung des Menschen zusammen. Ein Verzicht auf Aktion führt zu Verbalismus, zu leerem Geschwätz; ein Verzicht auf Reflexion führt zu Aktionismus, der - so Freire - die wahre Praxis leugnet und Dialog unmöglich macht.

Erziehung zur Befreiung setzt eine dialogische Unterrichtssituation voraus. Der Lehrer hat nicht mehr das Recht, die Lehrinhalte allein zu bestimmen, sondern diese ergeben sich aus der Untersuchung des thematischen Universums der Schüler. Dazu ist beiderseitige Empathie erforderlich. Der Lehrer fungiert in diesem Prozess - gemäss dem erst später populär gewordenen Motto der "Hilfe zur Selbsthilfe" - als Koordinator bzw. Animateur.

In seinem Buch "Erziehung als Praxis der Freiheit" (S. 66 ff.) hat Freire die verschiedenen Phasen seines Alphabetisierungsprogramms erläutert. Im Wesentlichen fußt die "Methode Paulo Freire" darauf, aus dem unmittelbaren Erfahrungsraum der Gruppe, mit der gearbeitet wird, sogenannte generative Wörter zu benutzen, deren Silben durch Rekombination die Bildung neuer Wörter ermöglichen. Konkret: In der Lerngruppe wird ein generatives Wort wie z. B. Favela (Slum) zunächst bildlich dargestellt (Kodierung), dann die gezeigte existenzielle Situation diskutiert und thematisch interpretiert (Dekodierung). Nachdem alle relevanten Aspekte besprochen sind, erscheint ein Bild des Schlüsselwortes mit seinen semantischen Gliedern, also zunächst FAVELA und dann in Silben aufgegliedert FA-VE-LA. Schritt für Schritt werden schließlich die phonemischen Gruppen gezeigt, hier also FA-FE-FI-FO-FU, dann VA-VE-VI-VO-VU und LA-LE-LI-LO-LU. Ist dies geschehen, bildet die Gruppe mit den vorhandenen Silben neue Wörter.

Freire berichtet über das mit dieser (hier vereinfacht dargestellten) Technik erzielte Ergebnis wie folgt: "Im Allgemeinen konnten wir nach einer Zeit von sechs Wochen oder zwei Monaten eine Gruppe von 25 Personen so entlassen, dass sie die Zeitung lesen, Notizen und einfache Briefe schreiben und Probleme von lokalem und nationalem Interesse diskutieren konnten" (EPF, S. 71).

von
Christoph Wagner



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