Aus seinem Tagebuch (Fragmente)

Das Antlitz des Stadtviertels ändert sich von Tag zu Tag.

1. Das Gefängnis

2. Die Pest-Station

3. Das Irrenhaus

4. Spielkasino Monaco. Der Einsatz ist der eigene Kopf. Das wichtigste dabei ist, das alles schon einmal da war. Elende Menschen zwischen Gefängnis und Krankenhaus.

Sklavenarbeit: nicht nur Anstrengungen der Muskeln, sondern auch die Ehre des Mädchens.

Der Glauben, die Familie, die Mutterschaft werden mit Füßen getreten. Man handelt mit allen geistigen Gütern. Auf dieser Börse gibt es Notierungen darüber, wieviel ein Gewissen wiegt. Der Tageskurs lautet: eine Zwiebel oder das Leben.

Die Kinder leben in ständiger Ungewißheit und Angst.

"Der Jude wird dich holen". "Ich werde dich dem Bettler geben". "Sie werden dich im Sack mitnehmen...

Das Sein der Waisen.

Das Dasein des Greises.

Seine Erniedrigung und moralisches Absterben (es gab eine Zelt, da es sich lohnte, für den Ruhestand zu arbeiten. So war es auch mit der Gesundheit.) Heute werden Kräfte und Lebensjahre gekauft. Nur der Lump hat Hoffnungen auf graue Haare.

Ich begieße Blumen, die arme Pflanzenwelt des Waisenhauses, des jüdischen Waisenhauses. Die ausgetrocknete Erde atmet auf.

Ein Wachposten schaut mir zu. Ob ihn wohl meine friedliche Tätigkeit um 6 Uhr morgens reizt oder ergreift? Er steht und schaut breitbeinig zu.

Alle meine Bemühungen; Esterka wiederzufinden, waren umsonst. ich war nicht so ganz sicher, ob ich ihr im Falle des Gelingens einen Dienst erweisen oder Schaden und Unrecht zufügen würde.

"Auf was ist sie reingefallen?" fragt jemand.

Vielleicht ist nicht sie, sondern sind wir reingefallen: (

daß wir hierbleiben).

Ich habe an das Kommissariat geschrieben, Adzio wegzuschicken. Er ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben und auf eine boshafte Art und Weise undiszipliniert. Man kann wegen seiner Streiche nicht das ganze Haus in Gefahr bringen (kollektive Verantwortung).

Wolkenverhangener Morgen. Halb sechs.

Ein gewöhnlicher Tagesanfang. Ich sage zu Hanna: Guten Morgen.

Sie antwortet mit einem erstaunten BIick.

Ich bitte sie:

"Lache doch." Sie ist krank, blaß und ihr Lächeln Ist kränklich.

Ihr habt getrunken, ihr Herren Offiziere, ausgiebig, und es hat euch geschmeckt. Was für ein Blut. Beim Tanz klirrten die Orden zu eurer Schande, die ihr blind wie ihr seid -- nicht seht oder nicht sehen wollt.

Meine Teilnahme am japanischen Krieg: Mißerfolg und Niederlage, am europäischen Krieg: Mißerfolg und Niederlage, am Weltkrieg . . .

Ich weiß, was der Soldat einer siegreichen Armee fühlt.

Die Zeitschriften, mit denen ich einst zusammengearbeitet habe, sind geschlossen und haben Bankrott gemacht. Der Verleger hat sich das Leben genommen.

Dies alles nicht deshalb, weil ich Jude bin, sondern weil ich im Osten zur Welt gekommen bin.

Man könnte einen traurigen Trost darin finden, daß es auch dem hochmütigen Westen nicht so gut geht.

Dies könnte ein Trost sein, ist es aber nicht.

Ich wünsche niemandem Böses. Ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie man das tut.

Vaterunser, der du bist im Himmel . . .

Dieses Gebet wurde vom Hunger und Elend geboren.

Unser tägliches Brot.

Das was ich erlebe, war, ist vorbei.

Sie verkauften Möbel, Kleider für einen Liter Petroleum, für ein Kilo Grütze, ein Glas Schnaps.

Ich begieße die Blumen. Meine Glatze im Fenster könnte ein gutes Ziel sein.

Er trägt einen Karabiner. Warum steht er da und schaut so ruhig zu? Es ist wohl kein Befehl da, zu schießen.

Vielleicht war er als Zivilist Dorflehrer, Notar, Straßenfeger in Leipzig oder Kellner in Köln?

Was würde er tun, wenn ich ihm zunicken und freundschaftlich zuwinken würde?

Vielleicht weiß er nicht einmal, daß es so ist, wie es ist? Gekommen?

Vielleicht ist er erst gestern von weit her gekommen?



Copyright © 2004 Esther Goldschmidt and Fred Zimmak