Wie man ein Kind lieben soll

Habe Mut zu dir selbst und such deinen eigenen Weg

Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest.

Leg dir Rechenschaft darüber ab, wo deine Fähigkeiten liegen, bevor du damit beginnst, Kindern den Bereich ihrer Rechte und Pflichten abzustecken. Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden musst.

Es ist einer der bösartigsten Fehler anzunehmen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind - und nicht zuerst die Wissenschaft vom Menschen.

Ein gewalttätiges Kind hat in der Erregung zugeschlagen - ein Erwachsener hat im Affekt einen Totschlag begangen.

Einem gutmütigen Kinde hat man sein Spielzeug abgeschwatzt - einen Erwachsenen hat man dazu überredet, eine Wechselunterschrift zu leisten.

Ein leichtsinniges Kind hat sich für einen Zehner, den es bekam, um sich ein Heft zu besorgen, Bonbons gekauft - ein Erwachsener hat ein ganzes Vermögen beim Kartenspiel durchgebracht.

Es gibt keine "Kinder an sich" - es sind Menschen; aber mit einer anderen Begriffsskala, einem anderen Erfahrungsschatz, anderen Trieben und anderen Gefühlsreaktionen. Denk immer daran, dass wir sie nicht kennen.

Sind sie unreif?

Frag doch einmal einen Greis - er wird dich noch in deinem vierzigsten Lebensjahr für unreif halten. Ganze Gesellschaftsklassen sind unreif, denn sie sind schwach. Ganze Völker sind auf fremde Hilfe angewiesen - sie sind gleichfalls unreif, denn sie besitzen keine Kanonen.

Sei du selbst und sieh dir einmal Kinder aufmerksam in den Augenblicken an, in denen sie sich frei entfalten können. Beobachte, aber fordere nicht.

Du kannst ein lebhaftes, aggressives Kind nicht dazu zwingen, gesetzt und leise zu sein; ein misstrauisches und verschlossenes wird nicht offen und redselig werden, ein ehrgeiziges und widerspenstiges nicht sanft und nachgiebig.

Und du selbst?

Wenn du keine achtunggebietende Statur und keine starke Lunge besitzt, wirst du dich vergeblich bemühen, mit erhobener Stimme den Lärm einer Kinderschar zu übertönen, Du hast ein gütiges Lächeln und Augen, aus denen Geduld spricht - sage nichts: vielleicht geben sie von sich aus Ruhe. Sie suchen sich ihren eigenen Weg.

Verlange nicht von dir selbst, bereits ein gesetzter und vollkommener Erzieher zu sein - mit einer psychologischen Buchhaltung im Herzen und einem pädagogischen Gesetzbuch im Kopf, Du besitzest einen wundertätigen Bundesgenossen, einen Zauberer gar - deine Jugend. Und da rufst du die krittelnde, unbeholfene Erfahrung zu Hilfe ?

Es geht nicht um das, was sein sollte, sondern um das, was sein kann.

Du möchtest, dass dich die Kinder lieben; du musst sie aber in die beängstigend beschränkten Formen unseres Lebens mit all seiner Heuchelei und seiner Gewalttätigkeit hineindrängen - in gewissenhafter, dir aufgetragener Arbeit, zu der du verpflichtet bist.

Sie aber wollen nicht, sie wehren sich; und sie müssen dir einfach böse sein.

Du möchtest, dass sie aufrichtig und wohlerzogen seien.
Und dabei sind doch die Umgangsformen dieser Welt verlogen, und Aufrichtigkeit wird oft als Unverschämtheit angesehen.
Weißt du vielleicht, was der Junge gedacht hat, den du gestern fragtest, warum er traurig sei?
"Lass mich in Ruhe", hat er gedacht. Schon ist er unaufrichtig. Er hat nicht das gesagt, was er dachte, sondern sich nur unwillig abgekehrt; und selbst das hat dich schon verletzt.

Es ist nicht richtig, sich zu beklagen; Verleumdungen sind hässlich, aber wie kommst du dazu, in ihre Angelegenheiten, Schmerzen und Vergehen einzudringen?

Nicht bestrafen und nicht belohnen. Aber es muss doch eine Ordnung geben und Weisungen, denen sie gehorchen sollen. Die Klingel muss alle um den Mittagstisch versammeln; und wenn sie zu spät kommen, wenn sie überhaupt nicht kommen, wenn sie einfach nicht kommen wollen ?

Du sollst ihr Vorbild sein;
aber wie kannst du dich vor deinen Fehlern, deinen schlechten und lächerlichen Gewohnheiten hüten?
Du wirst sie zu verbergen suchen.

Gewiß wird dir das gelingen; je sorgsamer du sie verbirgst,
um so eifriger werden die Kinder sich so verhalten, als bemerkten sie nichts;
aber im leisesten Flüsterton werden sie dich verspotten.

Schwierig - sehr schwierig sogar --, das gebe ich zu! Aber Schwierigkeiten hat jeder-, und es gibt mancherlei Wege-, damit fertig zu werden.

Eine Antwort auf diese Fragen wird immer nur mit relativer Genauigkeit erfolgen können. Denn das Leben ist keine Sammlung von arithmetischen Aufgaben-, wo es immer nur eine Lösung gibt-, und höchstens zwei verschiedene Arten-, sie abzuleiten.

Du willst den Kindern
die Freiheit sichern-, alle ihre geistig-seelischen Kräfte harmonisch entwickeln zu können-, ihre verborgenen Fähigkeiten voll auszuschöpfen-, und du möchtest sie in Ehrfurcht vor dem Guten und Schönen und vor der Freiheit erziehen...

O du Einfältiger -, versuch es nur!

Die Gesellschaft hat dir den kleinen Wildfang anvertraut-, damit du ihn zurechtbiegst und dressierst-, ihn für die Umwelt genießbar machst-, und nun wartet sie ab.

Es warten der Staat-, die Kirche-, der künftige Brotherr.

Sie fordern-, warten-, passen auf:

Der Staat verlangt staatszugewandten Patriotismus-,
die Kirche Kirchengläubigkeit,
der Arbeitgeber Redlichkeit –

und alle wollen sie Mittelmäßigkeit und ein demütiges Wesen.

Ist ein Kind allzu kräftig, dann wird es ausbrechen; ein stilles Kind wird später womöglich ein Herumtreiber-, ein ungezügeltes vielleicht zur Bestechlichkeit neigen - dem armen Wesen wird immer der Weg versperrt.

Wer ist daran schuld? Niemand, außer dem Leben selbst.

Du meinst, ein solches Kind sei nur gering in seinem Wert, ein Waisenkind - ein Gelbschnäbelchen, das aus dem Nest gefallen ist; es stirbt, niemand wird das bemerken, und Gras wird über seinem Grabhügel wachsen.

Denk nur einmal nach, dann wirst du dich davon überzeugen und bitterlich weinen. Lies nur die Geschichte des Kinderhortes von Prévost im freien republikanischen Frankreich.

Ein Kind hat das Recht zu wollen, zu mahnen, zu fordern - es hat das Recht zu wachsen und zu reifen und, wenn es reif geworden ist, Früchte zu bringen.

Das Ziel der Erziehung aber ist: nicht lärmen, die Schuhe nicht zerreißen, gehorchen und Befehle ausführen, nicht kritisieren, sondern glauben, dass alles das nur seinem Wohle dient, Harmonie, ungehemmte freie Entfaltung - das ist das Gebot: liebe deinen Nächsten.

Schau dich um in der Welt - und lächle.


Ein wichtiger Grundsatz

Das Kind soll ruhig unrecht tun.
Geben wir uns doch keine Mühe jeder Untat zuvorzukommen, bei jedem Schwanken sofort den rechten Weg zu weisen, auf jeder abschüssigen Bahn zur Hilfe zu eilen. Denken wir daran, dass wir in Augenblicken harten Ringens vielleicht nicht da sein können.

Soll es nur unrecht tun.
Wenn der noch schwache Wille gegen Leidenschaften angeht, mag er im Kampf ruhig einmal erliegen. Denken wir daran, dass seine moralische Widerstandskraft im Gefecht mit dem eigenen Gewissen üben und wachsen soll.

Soll es nur unrecht tun.


Denn wenn es in der Kindheit keine Irrwege geht, sondern - stets bewacht und behütet - nicht lernt, der Versuchung zu widerstreiten, dann wird aus ihm, mangels Gelegenheit, ein moralisch passiver Mensch, kein durch die Kraft der Selbstzucht tätiger.

Sage nicht: "Ich verabscheue unrechtes Tun."

Sondern lieber: "Es wundert mich nicht, dass du Unrecht getan hast."

Denke daran:

Ein Kind hat das Recht jemanden zu belügen, einem etwas abzulisten (zu überlisten), einem etwas abzunötigen, einen zu bestehlen.
Es hat indessen nicht das allgemeine Recht, zu lügen, abzulisten, zu erzwingen, zu stehlen.

Wenn es kein einziges Mal als Kind Gelegenheit hatte, Rosinen aus dem Kuchen zu klauben und sie heimlich zu naschen, ist es nicht ehrlich; dann wird es auch nicht ehrlich sein, wenn sein Charakter gereift ist.
"Ich bin empört."

Du lügst.

"Ich verachte."

Du lügst.

"Von dir hätte ich das niemals erwartet ... Also auch Dir kann man nicht trauen?"

Es ist schlimm, dass du das nicht erwartet, und es ist schlecht, dass du vorbehaltlos vertraut hast.

Ein armseliger Erzieher bist du:

du weißt nicht einmal, dass ein Kind - ein Mensch ist.

Du bist nicht deswegen empört, weil du eine Gefahr für das Kind wahrnimmst, sondern weil es den Ruf deiner Anstalt gefährdet, deiner pädagogischen Linie, deiner Person: du bist ausschließlich um dich selbst besorgt.

Lass die Kinder Fehler machen, und lass sie frohen Mutes versuchen, sich zu bessern.

Kinder wollen lachen, herumtollen - ihren Mutwillen treiben.
Erzieher:

wenn das Leben für dich ein Friedhof ist, so lass doch wenigstens sie es als eine Wiese betrachten. Selbst wenn du dich in ein härenes Gewand hüllst, Bankrotteur deines zeitlichen Glücks oder opferbereiter Büßer bist –
                hab doch für sie ein kluges und nachsichtiges Lächeln.

Hier soll und muss eine Atmosphäre allergrößter Nachsicht für Späße, Streiche, Schabernack, für Finten, Falschheit und naive Versündigungen herrschen. Hier ist kein Platz für die eiserne Pflicht, den steinernen Ernst, das harte Muss und die bedingungslose Überzeugung.

Sooft ich auch in den Ton einer Klosterglocke verfiel, beging ich einen Fehler. Glaub mir, das Leben im Internat ist deswegen so trübe, weil wir sein ideelles Niveau allzu hoch ansetzen. Zum hundertstenmal - im Kasernenleben eines Internates wirst du weder wunderbar einheitliche Rechtschaffenheit noch ängstliche Reinheit heranbilden, noch auch jene unbefleckte Unschuld der Gefühle, die nichts von der Existenz des Bösen weiß.

Und schließlich, liebst du deine rechtschaffenen, opferbereiten sanftmütigen Kleinen nicht gerade deshalb so sehr, weil du weißt, wie übel es ihnen ergehen wird ?

Und endlich, kann denn die Wahrheitsliebe auf die Kenntnis der Wege verzichten, auf denen die Falschheit wandelt?

Kannst du es wollen, dass die Ernüchterung plötzlich hereinbricht, wenn die Welt mit brutaler Faust die Ideale zertrümmert?

Wird das Kind, wenn es deine erste Lüge bemerkt,
nicht von einem Tag auf den anderen aufhören,
an alle deine Wahrheiten zu glauben?
Schließlich, wenn das Leben Krallen erfordert,
haben wir dann das Recht,
die Kinder nur mit Schamröte und leisem Seufzen auszurüsten ?

Deine Pflicht ist es, Menschen großzuziehen, nicht Schäfchen, und Arbeiter, keine Prediger, sondern physisch und moralisch gesunde Menschen. Und Gesundheit ist weder zart besaitet noch opferwillig.
Ich möchte gern erreichen, dass mich die Heuchler wegen Unmoral anklagen.



"Rettet man das Leben eines einzigen Menschen, so rettet man ein ganzes Universum."

Diese dem jüdischen Glauben verbundene zutreffende Aussage hat in der "Erziehung" eines Kindes - aber auch im Zusammenleben "Erwachsener" - grundsätzliche und tragende Bedeutung.

Korczak:

The child is an independent atom in space ("a speck of dust". Selected Works, p. 86) which with it´ s thoughts encloses everything; a transient atom with almost eternal potential, in "which God has made his dwelling". (p. 87).

Ein Kind / Mensch / Individuum kann und darf nicht Besitz und / oder Eigentum eines anderen Individuums sein. Das Kind, der Mensch, das Individuum hat das Recht auf seine eigenständige Individualität; das Kind hat das Recht - und die "Erwachsenen" die Pflicht diese Individualität zu respektieren - auf Förderung seiner eigenständigen Entwicklung. Ob unter diesem Aspekt die Bedeutung der Begriffe Erziehung und Erzieher/in in der bisherigen Weise noch zu gebrauchen sind, wäre noch zu überdenken und gegebenenfalls zu reformieren.

Dem Kind sind als Individuum somit gleiche Rechte wie dem Erwachsene als Individuum einzuräumen.

Dem möglichen und berechtigtem Einwand, Kinder seien noch nicht vollständig entwickelte Individuen, muss der Erwachsene mit der an sich gerichteten Frage

worin besteht die "vollständige" Entwicklung eines Individuums,
wann und wie ist sie abgeschlossen und

wie verhält es sich bei mir"

begegnen und abklären.

Korczak fordert nicht die Perfektion des Individuums - welche wohl nicht erreicht werden kann - , sondern den gegenseitigen Respekt der Individuen, welchen Kinder leider (noch) nicht genießen, obwohl sie hierauf ein absolutes Recht haben:

Auch und trotz einer Welt von Individuen, welche sich als "Erwachsen" bezeichnen, jedoch teilweise Schöpfung, Natur und Menschen ausbeuten, berauben, der Vernichtung aussetzen; lügen, betrügen, stehlen morden und Kriege führen.

In der Hoffnung, "seinen" Kindern eine individuelle Entwicklung zu ermöglichen, wirkte Janusz Korczak / Henryk Goldszmit, in der Absicht seine Erfahrungen und Erkenntnisse zum Wohle aller Kinder weitergeben zu können.

Akzeptieren wir nun die eigenständige Individualität der Kinder und räumen Ihnen und den großen Kindern ("Erwachsenen") die hierfür erforderlichen Rechte - nicht nur auf dem Papier - ein.



Copyright © 2004 Esther Goldschmidt and Fred Zimmak