Das Erleben von Gemeinschaft

Grundlagen des neuen Schultypus

Das Erleben von Gemeinschaft war innerhalb der Landschulheime von prägender Bedeutung und sollte in lebendiger Verwirklichung als oberstes Ziel verfolgt werden.

Ausgehend von einer Jugend, die sich selbst erzieht, wurde hier das planmäßige Einwirken eines Pädagogen auf den entsprechenden Zögling abgelehnt. Vielmehr sollten die Schüler nicht erneut in ein Abhängigkeitsverhältnis gestürzt, sondern durch erlebte Gemeinschaftserziehung zu frei denkenden und handelnden Menschen erzogen werden.

Auf dem Hintergrund dieses Gemeinschaftsprinzips wurden dann in später gegründeten Landerziehungsheimen unter dem Einfluß von Wyneken, Geheeb und Hahn auch koedukative Einrichtungen geschaffen. Entgegen vieler ablehnenden Meinungen sahen die Reformpädagogen hierin die Möglichkeit zur Erziehung einer sittlichen Persönlichkeit, die sich an das Natürliche, dem Zusammenleben in einer Familie entsprechenden, anlehnte. Anstelle der Gefahr dieser Koedukation sahen die Erzieher desweiteren vielmehr die Chance die SchülerInnen zu einer gesunden Einstellung zu Liebe und Ehe zu leiten. Denn nur durch die aktive Auseinandersetzung untereinander mit den täglichen Problemen aber auch geschlechtsspezifischen Eigenschaften jedes Einzelnen wird ein Hineinwachsen in ein natürliches Verhältnis untereinander möglich.

Aufgrund dessen schuf Hermann Lietz in seinen Heimschulen auch direkt Gruppen, die er intern als „Familien" bezeichnete. Dabei ist jedes Heim in Familien mit 5-12 Kindern eingeteilt. Die Lehrer sind stellvertretende Väter, welche - da sie zum großen Teil verheiratet sind - die Gattin als Mutter mit einbringen. Hier sollten die SchülerInnen die nötige Geborgenheit, Unterstützung und Hilfe erhalten, die sie zur Bewältigung der täglichen Probleme benötigten. Durch die alters-heterogenen Gruppen innerhalb der Familie wurde gleichzeitig ein Ausgleich geschaffen zu den alters-homogenen Konstellationen im Klassenverband. Die kritische Einstellung der Reformer zur Familie der vorhandenen Gesellschaft blieb zwar nach wie vor aufrecht erhalten, das Prinzip aber dieser - auch später als „Kameradschaft" bezeichneten - Gruppe wurde dennoch pädagogisch von ihnen anerkannt.

Das Leben und Erleben wirklicher Gemeinschaft drückte sich auch in einem veränderten Lehrer-Schüler-Verhältnis aus. Anstelle der traditionell autoritativen und oft auch antagonistischen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler wurde Wert gelegt auf das Kameradschaftliche. So wurde im gemeinsamen Sporttreiben u.a. Aktivitäten die Autorität der Lehrenden nicht etwa unterbunden, sondern im Gegenteil - nach Überzeugung von Lietz - dadurch steigt das Ansehen, die Achtung und Liebe der Jugend zu den Pädagogen. Das väterlich-kameradschaftliche und erzieherisch-freundschaftliche Verhältnis war somit für alle Landerziehungsheime kennzeichnend. Die Unmittelbarkeit dieser Beziehungen erlaubte in einigen Heimen den Schülern sogar das „Du" als Anrede, Kameradschaftlichkeit galt als höchstes Gut!

Als weitere Gepflogenheit innerhalb der Heime zum Zeichen der Gleichberechtigung aller im Haus lebenden Personen wurde ein monatliches Treffen abgehalten, die sog. Schulgemeinde Hier wurden diverse Angelegenheiten beredet, über die Gestaltung des gemeinsamen Lebens beraten, Probleme angesprochen und geklärt. Die Schüler übten bei diesem Anlaß gleichzeitig ihre Gedanken, Wünsche und Problem vor einer Gruppe in klare Worte zu fassen, Andersdenkenden ruhig zuzuhören und die Notwendigkeit des gegenseitigen Unterordnens zu verstehen. Außerdem gab diese Art der Versammlung jedem Schüler das Bewußtsein nicht nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen zu sein, sondern das Gefühl auch aktiv am Leben und Wirken Einfluß nehmen zu können.

Als zwangsläufige und folgerichtige Entwicklung bildeten sich im Laufe der Zeit sog. Schülerselbstverwaltungen in den Heimen heraus. Die Schüler waren somit für die Ordnung der inneren Angelegenheiten, die Verwaltung von Ämtern, Beilegungen von Streitfällen, Mithilfe bei der Erziehung jüngerer Mitschüler mit verantwortlich. Die schon lange praktizierten Gedanken der Landerziehungsheime wie Selbsttätigkeit, Selbständigkeit, Selbstbildung der Schüler, Schule als Stätte gemeinsamen Jugendlebens und das kameradschaftliche Lehrer-Schüler-Verhältnis wurden von dem Gedanken der Schülerselbstverwaltung nur noch abgerundet und sinnvoll ergänzt.

Durch die vorherrschende Gemeinschaftserziehung in den Landschulheimen kam es zwangsläufig auch zu Elitebildungen, die im Prinzip zu einer gewissen Spannung und Widersprüchlichkeit führten. Das Tragen gemeinsamer Trachten und Abzeichen stand unter dem Ruf die Jugend zu einer bestimmten, schon vorhandenen, Führungsschicht zu erziehen. Rechtfertigung fand sie allerdings in dem grundlegenden Motiv die Schüler auch durch diese Gemeinsamkeit Verantwortung zu lehren. Jedes Kind, jeder Jugendliche sollte so früh wie möglich ein starkes Verantwortungsgefühl entwickeln, so daß mit zunehmender Reife auch ein immer klarer werdendes Bewußtsein gegenüber sich selbst und selbstverständlich auch besonders gegenüber den Mitmenschen herausgebildet wird.



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