Der Waldorfkindergarten



Wer Pädagogik in sich aufnehmen will, der schreibe sich vor diese Pädagogik als Motto:

Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,
habe den Mut zur Wahrheit,
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.

Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik

Grundlage der Waldorfpädagogik

Das Menschenbild der Anthroposophie, das der Waldorfpädagogik zugrunde liegt, sieht den Menschen gegliedert in Leib, Seele und Geist. Der pädagogische Umgang orientiert sich ganzheitlich an dieser Dreiheit des Menschen, an den vier Wesensgliedern und an den Entwicklungsstadien des Menschen. Zu diesem Menschenbild gehört auch der Gedanke von Reinkarnation und Karma, das ist vielleicht der wesentlichste Unterschied zur traditionellen Pädagogik. Die geistige "Substanz" des Menschen ist unsterblich, sie lebt und entwickelt sich in neuen Inkarnationen weiter. Der Mensch ist für sein Schicksal selbst verantwortlich und hat die Aufgabe, es hier auf der Erde zu gestalten.

Die Begegnung mit dem Kind wird besonders für den Erzieher zur Frage der Selbsterziehung, denn er soll dem Kind je nach Entwicklungsstand als Vorbild, Autorität oder Gegenüber dienen. Für den Pädagogen steht die Frage im Vordergrund, wie kann ich dem Kind helfen, seine eigene Individualität zu entdecken und zu entfalten. Um dem Kind dabei helfen zu können, ist die eigene Weiterentwicklung des Pädagogen Voraussetzung.

Es gibt kein festgelegtes Programm in der Waldorfpädagogik, jeder Pädagoge ist aufgefordert, aus eigener Verantwortung die Erziehung er Kinder zu gestalten.

Das Menschenbild

Das anthroposophische Menschenbild steht im Vordergrund des Erziehungskonzeptes: dem Wesen des Kindes verpflichtet sein. Das Wesen in diesem ersten Jahrsiebt, das durch die Entwicklung des physischen Leibes gekennzeichnet ist, ist die entscheidenste und prägenste Entwicklungs- stufe des Menschen.

Das Konzept der Waldorfkindergärten läßt sich annähernd mit "Kinderraum = Spielraum" zusammenfassen.

Im Spielen zeigt das Kind sein Wesen. Im Spiel erfährt und bildet es sich selbst, es erobert seine Welt. Für alle Eindrücke ist es offen.

Sich diesem Spielen zuzuwenden, dem Kind entsprechenden Spielraum zu schaffen, ist Anliegen des Kindergartens. "Was sich das Kind erspielen darf, wird zum Lebensvermögen des Erwach- senen." Sein eigenes Dasein und die Außenwelt sind noch eine Einheit, für alle Eindrücke ist das Kind offen, und lebt im Spiel mit voller Hingabe. Im Spiel bilden sich die leiblichen Organe, die Fundamente für seelische Empfänglichkeit, Verantwortung, für Geistesgegenwart. Die weitere Unterteilung des ersten Lebensjahrsiebtes ist Grundlage für eine ganz spezifische pädagogische Qualität.

Je früher eine Lebensphase liegt, umso bedeutender ist sie in ihren Folgen für die Biographie. Diese Zusammenhänge zu erforschen, zu verstehen und ihnen in der Erziehung zu entsprechen, ist das Ziel in der Waldorfpädagogik.

Die Eltern und der Kindergarten arbeiten dabei eng zusammen, in Elternabenden und Seminaren wird gemeinsam über Fragen der Erziehung diskutiert. Ein weiterer Anspruch liegt in der ganzheitlichen Erziehung der Kinder. Den Kindern soll eine möglichst förderliche Früherziehung zuteil werden; gesunde Ernährung und Kleidung, schöne qualitätvolle Innenräume und Einrichtungen, abwechslungsreiche Spiel-Plätze, vielfältiges die Phantasie und Sinne anregendes Spielzeug. Sprechen, Erzählen, Singen und alles Praktische wird so getan, dass es von den Kindern mitvollzogen werden kann.

Ein immerwiederkehrender Rhythmus gliedert den Tag im notwendigen Wechsel von Aktivität und Ruhe, von Einzel- und Gruppenspiel, von drinnen und draußen. Der Wechsel der Jahreszeiten und das Feiern der Jahresfeste werden in das gemeinsame Leben intensiv einbezogen und geben den größeren Zeiträumen Rhythmus und eigene Qualität.

Das Grundprinzip der Waldorfpädagogik: Nachahmung

Die Kinder haben ein tiefgreifendes Interesse an den Vorgängen der Welt und eine große Freude oder Befriedigung daran, diese Vorgänge nachzuahmen. Die Sinneseindrücke und deren Verarbeitung bilden das Gehirn des Menschen aus und legen damit die Grundlage für geistige und seelische Fähigkeiten. Im weitesten Sinne kann man sagen, man veranlagt die Disposition für Gesundheit und Krankheit (Störungen) im späteren Leben.

Liebe und Freude sind die Prinzipien, die immer in der Erziehung vorhanden sein sollten, im ersten Jahrsiebt sind sie besonders wichtig. Der Erwachsene ist in dieser Zeit das Vorbild, alles, was dem Kind vorgelebt wird, nimmt es auf und verinnerlicht es.

Die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten wie Gehen und Sprechen lernt das Kind durch die Nachahmung. Für alles Lernen ist Beziehung, Freude und Bewegung wichtig. Im Kindergarten erleben die Kinder den sinnvoll tätigen Erwachsenen, der seine Tätigkeiten so einrichtet, dass die Kinder diese Tätigkeiten durchschauen und mit vollziehen können. Dies wirkt ordnend auf die Gefühls- und Gedankenwelt des Kindes.

In seinem Spiel werden die verinnerlichten Eindrücke wieder nach außen gebracht und so verarbeitet. Im Spiel findet eine Verknüpfung von motorischen, sozialen und gedanklichen Prozessen statt und fördert damit die Vernetzung im Gehirn (sensorische Integration). Der "Erkenntnisweg", dem das Kind im ersten Jahrsiebt folgt, ist Handeln - Fühlen - Denken. Deshalb sind die Kinder über eine Tat, über ihren Willen ansprechbar und nicht durch Ermahnungen oder Belehrungen, die nur den Intellekt des Kindes ansprechen. So nimmt das Kind nicht nur äußere Handlungen über die Nachahmung auf, sondern unsere Mitmenschlichkeit unserer Umgebung gegenüber. Dies bildet später die Grundlage für eigenen verantwortliches und moralisches Handeln.

Rhythmus im Tagesverlauf, Jahresverlauf

Das Kind braucht für seine gesunde Entwicklung Rhythmus und Wiederholung. Es ist eingebunden in die Kreisläufe der Natur, die sich im Tag-/Nachtrhythmus und in den Jahreszeiten zeigen. Deshalb achten wir auf einen geregelten Tagesablauf, in dem das Kind zwischen Wach- und Schlafzeiten und im Wachsein zwischen aktiven und eher passiven Zeiten wechselt. Jeder Tag im Waldorfkindergarten gliedert sich in Zeiten, in denen die Kinder ganz aus ihren eigenen Kräften tätig sind - Freispiel drinnen und draußen - und Zeiten, in denen sie durch die Kindergärtnerin konkret angeregt werden - im Reigen und im Märchenkreis. So findet ein Atmungsvorgang statt: Einatmen, also Phasen des Innehaltens, Aufnehmens wechseln mit Ausatmen, Phasen des Ausströmens, nach außen Agierens ab. Jeder Tag bekommt so seinen Rhythmus.

Jeder Wochentag hat einen kleinen Höhepunkt. Es werden jeden Tag bestimmte Aktivitäten und ein bestimmtes Frühstück angeboten, zum Beispiel: Montag - Wachskneten und Milchreis, Dienstag - Eurythmie und Rohkost mit Knäckebrot, Mittwoch - Brotbacken und Hirsebrei, Donnerstag - Wasserfarbenmalen und Vollkornbrot, Freitag - Wandern und Müsli. So bekommt die Woche eine Struktur, die den Kindern Sicherheit und eine Orientierungshilfe gibt. ("Noch zweimal Wassermaltag, dann hast du Geburtstag.")

Die Wochen stehen wiederum unter dem Zeichen der Jahreszeiten und der Jahresfeste. Am Wechsel der Jahreszeiten erleben die Kinder die Vorgänge in der Natur in lebendiger und tiefer Weise. Sie spüren die unterschiedliche Stimmungen im Jahreslauf: Frühling - Erwachen des Lebens und Aufbruch, Sommer - Fülle und Lebenskraft, Herbst - Ernte und Einkehr, Winter - Ruhe und Innerlichkeit. Entsprechend der Jahreszeit wird im Kindergarten der Jahreszeitentisch gestaltet.

Spiel, Freispiel

Das Kind will mit allen Sinnen erleben, sich mit dem ganzen Körper bewegen, mit Händen und Füßen tätig sein, seine Umwelt ergreifen, begreifen. Die schönsten Spiele entstehen dort, wo es "nichts" zum Spielen gibt, es aber sinnlich stark angeregt wird, z.B. in der Natur. Am Strand mit Wasser, Sand und Muscheln wird endlos Sandgebäck fabriziert, werden Sandburgen gebaut oder Muschelsuppe gekocht, im Kaufladen gibt es verschiedene Muscheln, Steine und Algen zu kaufen. Oder im Wald, wo aus Ästen und Stöcken Zelte und Hütten wachsen, wo aus Rinden, Moos und Blumen kleine Schiffe entstehen, wo man Versteck spielen kann ....

Im Waldorfkindergarten haben wir schon durch die Auswahl der Spielmaterialien eine vielfältige Sinnesanregung. Das kleine Kind reagiert unmittelbar körperlich und gefühlsmäßig auf alle Sinneseindrücke, nicht über den Verstand. Ein komplexer Sinneseindruck, der viele Qualitäten aufweist, führt zu einer differenzierten Vernetzung im Gehirn, wobei auch die Gefühle beteiligt sind. Dies ist für die späteren kognitiven und sozialen Fähigkeiten von großer Bedeutung.

Im Freispiel darf (soll) ein schöpferisches Chaos entstehen, da Phantasie Freiräume und Anregung durch das Zufällige braucht. Nichts ist ausgestaltet, alles kann sich von einem Augenblick zum nächsten verändern: ein Stückchen Holz, gerade noch als Bügeleisen dringend benötigt, wird zum Telefon. Das kleine Kind wird noch vollkommen durch das vorhandene Spielmaterial angeregt, die "großen" Kinder haben bereits eigene Ideen und Vorstellungen und suchen sich ihre Materialien zusammen und die mittleren entdecken die Rollenspiele. In der Spielentwicklung durchlaufen auch die Phantasiekräfte eine Metamorphose. Wenn sie gepflegt werden und sich entwickeln dürfen, bilden sie später die Grundlage für kreatives lebendiges Denken.


Sieben oder acht Jahre des Sichbewegens und Spielens sind notwendig, um einem Kind die sensomotorische Fähigkeit zu vermitteln, die als Grundlage für seine intellektuelle, soziale und persönliche Entwicklung dienen kann.

Jean Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung

Spielzeug

Alle Spielzeuge, welche nur aus toten mathematischen Formen bestehen, wirken verödend und ertötend auf die Bildungskräfte des Kindes, dagegen wirkt in der richtigen Art alles, was die Vorstellung des Lebendigen erregt.

Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte des Geisteswissenschaft

Das Spielzeug im Waldorfkindergarten ist schnell aufgezählt, denn es handelt sich in der Regel um einfache Gegenstände, die die Phantasie der Kinder anregen sollen und deshalb sehr einfach gestaltet sind. Es gibt Tücher, Bretter, Holzklötze, Körbe, Muscheln, Kastanien, Obstkerne, Eicheln, Steine, Tannenzapfen, ein paar gestrickte oder geschnitzte Tiere, einige einfache Stoffpuppen, eine Einrichtung für die Puppenstube, Nadel, Faden, Wolle, Spieleständer, Stühle und Tische. Dies ist sozusagen das "Urmaterial", aus dem man fast alles herstellen kann.

Der Tannenzapfen dient z.B. als Baum in einem Puppentheaterspiel, oder als Spritze beim Arzt, als Gemüse im Kaufladen und als Reiseproviant für unterwegs. Spieltücher finden ihre Verwendung für Verkleidungen aller Art, Häuserwände und - eingänge, Verbände für Kranke, als Fallschirm, als Kissen, als Decke, eine Zeitung kann durch sorgfältiges Falten hergestellt werden oder ein neues Puppenkind entsteht durch fünf Knoten im Tuch. Selbst ein Christkind wurde in der Weihnachtszeit aus solch einem Tuch hergestellt und von den Kindern mit einer rührenden Ehrfurcht im Krippenspiel betreut.

Die Sinne der Kinder sollen möglichst vielfältig angesprochen werden. Das Kind erlebt den unterschiedlichen Sinneseindruck, wenn es einen Stein in die Hand nimmt, die Kühle, Schwere und Glätte spürt, oder einen Tannenzapfen, der viel wärmer ist, aber keine geschlossene Oberfläche hat, der rauh ist und vielleicht noch ein bisschen nach Wald riecht. Die Kastanien liegen von ihrer Qualität her dazwischen, sind glatt und rund wie der Stein, aber nicht so kalt und schwer. Die Muscheln erinnern an den Urlaub am Meer, man kann die verschiedenen Formen betrachten und mit den Fingern nachfahren.

Die Bauklötze aus Aststücken sind alle unterschiedlich breit und hoch, manche sind auch etwas schief oder haben ein kleines Astloch an der Seite. Es ist schon schwierig, da das richtige Gleichgewicht zu finden. Aber sie sind vielfältig zu gebrauchen, ein Aststück hat eine Gabel und kann als Tor oder Brunnen dienen, ein anderes sieht aus wie ein Auto, kann aber auch als Telefon dienen.

Die Entwicklungsphasen des Kindes - Der Sieben-Jahres-Rhythmus



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